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Über die Macht des Eros

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Nie zuvor gab es in der Geschichte des Menschen so viele schöne Menschen wie heute. Wer aber versteht, wer wagt es, den Sinn dieser unerhörten Herausforderung zu verstehen? Was bedeutet es, was kann es bedeuten, daß auf einer Erde, die viele Höllen besitzt und heute offenbart, so viel Schönheit erscheint? Erscheinung von Schönheit mitten in Stadt-Sümpfen, in städtischen Dschungeln voll abgründiger Häßlichkeit?

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Nie zuvor gab es in der Geschichte des Menschen so viele schöne Menschen wie heute. Wer aber versteht, wer wagt es, den Sinn dieser unerhörten Herausforderung zu verstehen? Was bedeutet es, was kann es bedeuten, daß auf einer Erde, die viele Höllen besitzt und heute offenbart, so viel Schönheit erscheint? Erscheinung von Schönheit mitten in Stadt-Sümpfen, in städtischen Dschungeln voll abgründiger Häßlichkeit?

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Ein Tropfen Schönheit, ertrunken in ölschmutz, Blech, Eisenteilen. Noch scheint der Schimmer eines Lächelns auf dem gepflegten Gesicht der jungen Frau zu liegen. Ihr enganliegendes Kleid ist aufgeschlitzt. Jetzt legt der Sanitäter eine graue Wolldecke über die Leiche. Der rote Sportwagen ist ausgebrannt. Einer der täglichen Unfälle auf der Straße von Udine nach Tarvis. Auf der Heimfahrt von Cattolica ist es passiert. „Es“: so nennt es der betrübt zusehende, eben aus seinem Wagen ausgestiegene Kaufmann aus Düsseldorf, der nicht zuletzt die deutsche Nummer des verunglückten Wagens betrachtet hat.

Was „passiert“ den vielen schönen Menschen da, im Sommer, im Urlaub, am Strand, am Meer? Was „passiert“ diesen Millionen, die, wohlverpackt von den Großunternehmungen der Reiseindustrie, wohlbehalten an ihr Ziel gelangen?

Dies ist zu befürchten: nichts. Es passiert ihnen nichts.

Nichts nennenswertes.

Was aber wäre hier zu nennen, wenn wir diese einmalige Herausforderung, die Erscheinung von so viel Menschenschönheit wie nie zuvor in der Geschichte des. Menschen, ernst nehmfefi? ‘ •

Ist dies Utopie? Vision? yon der Macht der Schönheit, von der Macht des Eros ergriffen, brechen Menschen auf in ein neues Leben. Die Erfahrung der Schönheit, des Eros entzündet sie, macht sie „mitreißend“. In ihnen werden die schlummernden Kräfte der Tiefenschichten wach. Sie stehen auf, ergriffen, in heiligem Zorn, in heiligem Haß, und sehen diese Welt voller Häßlichkeit, voll Unsinn, voll Verbrechen. Hölderlins „Hyperion“, „Griechenland“ ist überall…Das Angebot also des Eros, eine neue Welt zu schaffen. Und das Angebot der Obristen, Männer, Frauen, halbe Kinder zu Tode zu schinden. Und das freie Wort und die „freie Liebe“ zu ersticken.

Dies aber geschieht heute, jahraus, jahrein. Es wird immer mehr Schönheit produziert. Immer schönere Kinder kommen auf die Welt. Junge Mädchen laufen ins Leben voll Charme, Anmut, Schönheit. Neue Knabenschönheit, neue Männerschönheit wächst heran, in einer Vielfalt, in einer Neuheit, die nie zuvor zugegen war. (Soll diese Männerschönheit nur den homosexuellen Routiniers zugute kommen?) Was aber geschieht mit dieser Schönheit? Sie bleibt ohne Folgen. Ohne Folgen für eine mögliche Mobilmachung des Menschen für ein freieres, schöneres, höheres Leben. Diese Schönheit wird, wenn sie überhaupt wahrgenommen und nicht sofort „vernascht“ wird, privatisiert. Im schlechten Sinne des Wortes privatisiert: im „Hausgebrauch“ vereinnahmt. Ohne Folgen für die Gesellschaft.

Jetzt ist es also passiert: die Schöne und der Schöne öffnen den Mund. Gepflegte Zähne, ein schöner Mund, Perlen—Zähne. Aus dem herkos odonton, aus dem Gehege der Zähne (Homer), winden sich gurgelnde Laute. Wenige Worte, wenige Sätze in einer Stottersprache. Mit wenigen Worten mit wenigen Sätzen, mit einigen Dutzend Phrasen und Leerformeln haben sich diese Schönen alles zu sagen, was sie sich zu sagen haben.

Wir hören einigen älteren Semestern, die dem gehobenen Bürgerturr angehören, zu: Sie sprechen dieselbe lineare, dürre, menschlich so dünne

Sprache wie soeben die „Jungen“. Der gepflegte Jargon verdeckt nicht die Dürftigkeit, die Armut dieser Menschensprache. „Wenn ich mit Engelszungen redete…“: so sang einst Paulus in seinem Hohen Lied der Liebe, das doch nur noch ein Abglanz des Hohen Lieds der Liebe war. Wir sind heute unendlich bescheidener: wie schön, wie großartig wäre es, wenn der Mensch heute mit Menschenzungen sprechen könnte, in einer reichen Sprache, in einer Sprache der Liebe.

Nun sprechen sie aber. Sie schwätzen. Geschwätz und Gerede und Geraune. Ihre Sprache, eine Kümmerform von Menschensprache, verrät: in den wunderschönen Leibern hängen, wie in alten Dachkammern aufgelassener ländlicher Scheunen und Katen, die weder von Mensch noch Vieh mehr bewohnt werden, Fledermäuse: Fledermausseelen. Diese schwärmen noch zur Nachtzeit aus in einem etwas irren, wirren Zickzackkurs. Sie fangen Eintagsmücken. Sie, unsere Schönen, unsere Schönheiten, sind menschlich, geistig, seelisch so anspruchslos wie ganz kleine Kinder es zu sein scheinen.

Infantilismus von Zwanzigjährigen, von Dreißigjährigen, von Sechzigjährigen.

Dies also „passiert“, wirklich:- die Herausforderung der Schönheit wird nicht gesehen, nicht verstanden, nicht angenommen. Schönheit, hohe Leibesschönheit als Vorschein, als Vorglanz der Erscheinung eines größeren Menschen. Modephotographen und künstlerisch begabte Photographen zeigen Landschaften des Menschenleibes, die mit Watteaus „Einschiffung nach Cythere“ und mit den hohen Poemen, gewidmet der Schönheit des menschlichen Eros, zu vergleichen wären, also etwa mit den Poemen des Saint-John Perse und des Renė Char. Sie, diese Photos sehr schöner Menschenleiber, sind nicht zu vergleichen: sie werden nicht wahrgenommen als Offenbarungen von Schönheit, die ganz rund in sich ist und ganz offen. Transzendierend, hinausweisend, hinausschreitend in das „Weite Land“: in das weite Land des Menschen, in dem Wölfe, Löwen, Schlangen, Wüsten, Ungeheuer auf uns alle warten.

Die schönen Leiber laden also nur ein zum Selbstgenuß, zum raschen Konsum. Man nimmt sie wie eine Zigarette, wie einen Drink. Zwischen zwei Zigarettenzügen, zwischen zwei Drinks.

Die ungeheure Explosionskraft, die dem Eros innewohnt, bleibt also verschlossen: In der schönen Verpackung, in der Entpackung der schönen Leiber. Die Zündung findet nicht statt: die große Zündung des Menschenstofles, des Menschenpotentials. Entzündet von den Flammen des Eros könnte der neue Prometheus aufspringen und die Fesseln sprengen, mit denen der ewige Jupiter, Herr aller Herrschaften, ihn an den Felsen des Ichs, des Interesses fesselt und dem Geier der Gier der Lust, dem Pleitegeier, die Leber, also die Mitte der Geschlechtsmacht des Menschen, zum Fräße gibt.

Make love, not war. Die Jungen und die „Linken“, die dieses große Schlagwort gefunden haben, haben zutiefst recht mit ihrer Intention. Die Macht der Mörder und Mitmörder, der Kriegsmacher, kann nur durch eine andere Macht gebrochen werden: Durch die M’icht der Liebe. Die

Aggressivität, der gestaute Haß, die Brutalität der liebesschwachen, unliebenswürdigen Kriegsmacher kann nur durch eine stärkere Macht gebrochen werden: diese soll die Liebe sein.

Make love, not war. Diese Devise ist richtig, wenn sie richtig verstanden wird. Sie droht heute in einem Dschungel von Mißverständnissen unterzugehen. So, wie die Möglichkeit des nackten Protestes mißdeutet und mißbraucht werden kann. Nicht jedermann, der sich vor öffentlichen Herumstehern auszieht, ist ein Freiheitskämpfer, ist ein Vorkämpfer für einen größeren Frieden. Nicht jede Frau, die sich einer Nacktaktion zur Entbindung schöpferischer Phantasie verschlafener Seelen zur Verfügung stellt, ist eine Schwester der Freiheitsfrau des Delacroix.

Nackter Protest kann blutig, lebenswarm, todernst, lebensernst vorgetragen werden: im Gerichtssaal, in einer Session des Parlaments, in der es um Wehrmacht, um entscheidende Fragen der Innen- und Außenpolitik geht. Nackter Protest kann „ankommen“ und die echte Provokation leisten, wenn er sachbezogen, im Bunde mit Wort und Schrift, sehr konkrete Ziele anvisiert. Nackter Protest kann verschlammen, erblinden und erblöden, wenn er im Faschingsulk ertrinkt.

Karneval und Revolution: sie gehören irgendwie zusammen seit der römischen Antike. Befreiung der Sinne und der Sinnesmacht des Menschen und Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter und fremdverschuldeter Sklaverei gehören intimst zueinander. Sex, um „ein total streitloses Zeitalter einzuleiten“. Hier wird ein fundamentales Mißverständnis des Menschen offen ausgesprochen. Dieses Mißverstehen ist nicht auf die elf Gründermitglieder der Deutschen Sexpartei beschränkt, sondern geistert verwirrend durch die Hirne und Herzen vieler tausender, wohl hunderttau- sender „Blumenkinder“, Hippies und verwandter Jugendgruppen. Sex wird als Fluchtmittel verwendet. Es führt nicht zum Kampf, zum Lebenskampf, sondern soll die Frau, den Mann, das Mädchen, den Jungen wie eine Fee in ein Dixieland entrücken, in ein Zauberreich der Liebe. Hier, in der Entrückung, soll der Mensch die Liebe erlernen.

Hier wird, nur mit scheinbar anderen Mitteln und anderen ideologischen Voraussetzungen, ein altes verfluchtes, verdammtes Ziel angestrebt: ein Happy-End, eine Harmonisierung, eine „Lösung“ des Konflikts Mensch. Eine Endlösung.

Ältere repressive Methoden der Erziehung und „Menschenführung“ wollen auf ihre Weise, durch Schule, Kirche, Kaserne, Betriebsdisziplin, durch Rückzucht das Menschenkind zum Untertanen befrieden. Der Mensch soll in permanenter Unterdrückung seiner Triebe und Leidenschaften, aller „Eigenwilligkeiten“ seiner Person, glücklich gemacht werden. Wenn er sich möglichst gut anpaßt und einpaßt, wird er befriedet: auf Erden und im Himmel. Auf Erden wird dieses Zurechtschleifen durch Schule, Erziehung, Betriebe, durch die lieben Nächsten besorgt.

Das neue „Ausleben“ des zum Sex verkümmerten Geschlechtslebens dient, wie seine direkte „alte“ Unterdrückung, demselben Ziel: Der Einpassung des Individuums in eine geschlossene Gesellschaft, der Privatisierung der „Liebe“. Rechts und links und in einer breiten „liberalen“ Mitte wird heute das Geschlecht mißverstanden. Seine mächtigen Ströme sollen das Stromaggregat speisen, das zur täglichen Produktion eines Happy-End den Tagesund den verbilligten Nachtstrom liefern soll.

Make love, not war. Wer in die scheuen, verhaltenen, traurigen Augen junger Mädchen, junger Frauen, die schon einige „Erfahrungen“ hinter sich haben, sieht, wer die große Schwermut und Einsamkeit wahrnimmt, die um junge Menschen ist, wer die Schüchternheit (eine schöne Schüchternheit, die voll Lebensernst ist), wer die Sprach- schwierigkeiten beachtet, die die besten, die reifsten dieser jungen Menschen nicht selten auszeichnet, der kann an diesen und anderen Symptomen erkennen: viele junge Menschen wissen heute bereits: es ist sehr, sehr schwer, Liebe zu „machen“, Frieden zu „machen“.

Wer dies wagt, begibt sich in einen Kampf auf Leben und Tod, der nicht leichter ist als jener Kampf auf Leben und Tod, in den sich junge Menschen einer Neuen Linken in Amerika begeben haben. Beide Kämpfe hängen eng zusammen. Es ist nicht leichter, die „Seelenburg“ in der eigener Person zu stürmen, als das Pentagon zu erstürmen.

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