Wer sichert Europa?
Die Rolle des Bundesheeres in einer neuen europäischen Friedensordnung.
Die Rolle des Bundesheeres in einer neuen europäischen Friedensordnung.
1983 meinten 86 Prozent der Österreicher, daß wir ein Bundesheer brauchen. 1988 noch 61 Prozent und im Vorjahr nur mehr 56 Prozent1. Welches Meinungsbild wird es 1990 geben?Etwa dann, wenn die Zeitungen den Abschluß des ersten Wiener Abrüstungsvertrages bejubeln werden?
Hans-Dietrich Genscher sprach kürzlich vor den Wiener Verhandlern sogar von einer gesamteuropäischen Ordnung, die „eine Rückkehr zu Konfrontation und Rüstungswettlauf ausschließt". Ist es da nicht wirklich Zeit zu sagen: „Weg mit dem Bundesheer"? Oder zumindest ein „Bundesheer light" zu fordern?
So einfach geht das nicht. Daß es Zeit für interne Heeresreformen ist, steht außer Zweifel. Ebenso wichtig ist es, die Aufgaben der Landesverteidigung selbst zu überprüfen. Erst dann kann gefragt werden, mit welchen Organisationsformen und Mitteln diese am besten angegangen werden. Neue Analysen der europäischen Sicherheitslage müssen daher Vorrang haben.
Solche Analysen lassen sich allerdings nicht wie Science Fiction erdichten. Wenn das Wiener Verhandlungsergebnis vorliegt, wird man brauchbare Ausgangsdaten haben. Trotzdem muß in Szenarien gedacht werden. Ganz ohne spekulative Elemente geht das nicht. Optimisten werden die Dinge anders sehen als Pessimisten. Militärs betreiben meist „worst case thinking", rechnen mit dem Ärgsten. Also auch mit der Möglichkeit von Krisen und Konflikten, wo Österreich dann ein Bundesheer braucht. Aber zeigen sich auch Anhaltspunkte für ein „best case thinking"?
Die europäischen Friedenshoffnungen verknüpfen sich mit Gorbatschows Wort vom „gemeinsamen europäischen Haus". Kürzlich hat auch Präsident Francois Mitterand dafür einen völkerrechtlichen Begriff auf den Tisch gelegt, den der Konföderation. Diesem Konzept eines gesamteuropäischen Staatenbundes hat auch Helmut Kohl zugestimmt. (Wobei vorerst offen ist, wie es dabei mit den Allianzbindungen weitergehen soll).
Solche Ideen existieren nicht erst seit gestern. Bereits in den fünfziger Jahren gab es bei den Ost-West-Konferenzen offizielle Vorschläge zu einer europäischen Friedensordnung. Der gemeinsame Nenner war ein System der Rüstungsbeschränkung, der Kollektiven Sicherheit und der Kooperation. Kollektive Sicherheit - das hieß: die Konfrontation der Blöcke sollte durch ein Vertragssystem ersetzt werden. Dieses verpflichtet alle Staaten, gegen jeden Friedensbrecher, innerhalb oder außerhalb des Kreises der Beteiligten, gemeinsam vorzugehen. Notfalls auch militärisch. Jeder potentielle Aggressor sollte wissen, daß er stets die Übermacht der anderen gegen sich haben würde. Gleich, ob man früher befreundet oder verfeindet war. In manchen Vertragsentwürfen war auch schon vorgesehen, was man später „Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen" nannte: In-spektions- und Kontroll Vorkehrungen, Frühwarnsysteme, regelmäßige Konsultationen. Dieses System sollte allen europäischen Staaten offenstehen, irgendwann könnten sogar die Militärbündnisse miteinander verknüpft werden. Freilich gab es das westliche Verlangen, der Osten müsse Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkennen.
Vor 25 Jahren hat der Chef planer der amerikanischen Nachkriegspolitik, George F. Kennan, in Wien für die Einsicht geworben, daß die Überwindung des Kalten Krieges nur dann zu stabilen Verhältnissen führen kann, wenn man so etwas wie die „Vereinigten Staaten von Europa" zustandebringt. Und zwar unter Einbeziehung des Ostens, was freilich erhebliche gesellschafts-und verfassungspolitische Veränderungen voraussetze. Nur in einer gemeinsamen bundesstaatlichen Ordnung des Rechts und des Interessenausgleichs ließen sich die Nationalitätenprobleme entschärfen. Die Furcht vor Hegemoniepositionen - etwa der wiedergeeinten Deutschen - würde auf die Dauer auch nur in einer solchen Ordnung bewältigt werden.
Kurz: Was heute die Europäer so fasziniert, sind Konzeptionen, die längst entworfen worden waren. Nur, aus all diesen Plänen konnte damals nichts werden. Die deutsche Frage war blockiert und sie blockierte die Entspannung.
Nun aber wird das alles anders. Ein „System kooperativer Sicherheit", an dem auch die Amerikaner beteiligt bleiben, ist keine Chimäre mehr. Der Abbau der Ost-West-Konfrontation schwächt den Zusammenhalt der Allianzen, vermehrt die Chancen allianzübergreifender Konstruktionen, macht sie zugleich auch notwendig. Die deutsch-deutsche Dynamik und die Nationalitätenkonflikte zeigen, daß das europäische Kräftefeld neue Stabilisatoren braucht.
Gefordert wären jetzt allerdings die Außenpolitiker. Denn die Militärs sind bereits kräftig am Werk. In der Wiener Hofburg kommen die Verhandlungen über Stabilität auf niedrigerem Niveau und vor allem über den vorrangigen Abbau der Offensivpotentiale gut voran. Das bedeutet nicht etwa schlichtweg Abrüstung. Erstrebt wird eine Verteidigerdominanz nach dem Motto: weniger Angriffswaffen (wie Panzer), aber genug Verteidigungswaffen (wie Panzerabwehrsysteme). Wird dieses Ziel erreicht, dann könnte erstmals in der Geschichte eine strategische Lage entstehen, in der das Militär auch objektiv ein Instrument der Friedenssicherung und nicht mehr der Angriffsdrohung darstellt.
Gerade ein Kollektives Sicherheitssystem verlangt allerdings, daß alle mitmachen.Trittbrettfahren wäre nicht nur unfair, sondern würde den Mechanismus selbst in Frage stellen oder schwächen. Denn die friedenssichernde Abhaltewirkung beruht ja darauf, daß ein Friedensstörer nicht nur mit Sanktionen einiger Staaten, sondern mit dem Gegendruck aller rechnen muß. Es wäre auch kaum wünschenswert, daß nur einige Militärmächte die Polizistenrolle übernehmen.
Drei Aufgaben hätte eine solche Gemeinschaft:
1. Entwicklung, Aufrechterhaltung und Kontrolle einer politischmilitärischen Lage, die keinen Grund zu Bedrohungsängsten gibt.
2. Krisenmanagement und die gemeinsame Aktion für den Fall, daß sich ein Konflikt aufgrund von Mißverständnissen oder Fehlreaktionen entwickelt.
3. Zusammenstehen gegenüber Bedrohungen Europas von außen.
Auf die Neutralen käme dabei eine neue Mitverantwortung zu; sie müßten ihre Rolle neu bestimmen. Traditionell bedeutet Neutralität Distanzierung: Man will sich aus Konflikten heraushalten. Aber wenn in Zukunft „Sicherheit nicht im Gegeneinander, sondern im Miteinander" (Genscher) gefunden werden muß, wäre es widersinnig, damit nichts zu tun haben zu wollen. Umgekehrt: Es gilt dann, alle Kräfte zusammenzulegen. Gleichwohl hätten die Nichtmitglieder der Allianzen noch immer eine besondere Aufgabe: Beim Brückenbau zu helfen, zum Ausgleich beizutragen, Vertrauen zu fördern - wie schon im KSZE-Prozeß. Dabei wären sie umso glaubwürdiger, je mehr sie auch selbst an den Pflichten mittragen. Dazu gehört auch die Pflicht, mit eigenen Kräften zur kollektiven Sicherheit beizutragen.
Das wäre eine neue Funktion für das österreichische Bundesheer. Eine sinnvollere als je zuvor. Es werden dazu weder ideologische Fixierungen, noch definierte Feindbilder gebraucht.
Ist das alles nur Utopie? Kann so ein neues Sicherheitssystem wirklich funktionieren? Die Chance ist jedenfallls größer denn je. Sollte es trotzdem anders kommen als man es in der Linie dieses „best case thinking" hoffen möchte, wäre es umso wichtiger, daß Österreich sein Bundesheer nicht aufgibt.
P.S. Was hier erläutert wurde, macht übrigens auch verständlich, warum Politiker in Wien wie in Bonn überzeugt sind, daß die Neutralität als Hindernis für einen EG-Beitritt an Bedeutung verliert.
Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!