Nach dem Marathon: Die bipolare Gesellschaft
Der Vienna City Marathon hat gezeigt: Sportveranstaltungen mit Extrembelastung sind ungebrochen populär. Wo aber verläuft die Grenze zwischen gesundheitsförderndem und -schädlichem Laufen? Über eine Kultur zwischen Fitnesswahn und Bewegungsmangel.
Der Vienna City Marathon hat gezeigt: Sportveranstaltungen mit Extrembelastung sind ungebrochen populär. Wo aber verläuft die Grenze zwischen gesundheitsförderndem und -schädlichem Laufen? Über eine Kultur zwischen Fitnesswahn und Bewegungsmangel.
Regenerieren: Das ist nach dem Wiener Marathon für viele Läufer und Läuferinnen angesagt. Rund 35.000 Menschen waren bei Österreichs größter Laufveranstaltung vergangenen Sonntag am Start. Bei relativ kalten und teils windigen Bedingungen wurden sie von hunderttausenden Zuschauern am Streckenrand angefeuert. Nirgendwo sonst gehen Spitzen- und Hobbysport so hautnah ineinander über, oft nur getrennt von ein paar Schritten auf dem Asphalt.
Wie populär das Laufen mittlerweile ist, sieht man am besten im Trubel rund um diese Königsdisziplin. Und an den prominenten Politikern, die hier seit den 1990er Jahren ihre Ausdauer exemplarisch unter Beweis stellen – von Jörg Haider (FPÖ/BZÖ), Josef Cap (SPÖ), Reinhold Lopatka oder Martin Bartenstein (beide ÖVP) bis zu Joschka Fischer (Grüne), der in Deutschland vom pummeligen Oppositionspolitiker zum „slimfitten“ Außenminister mutierte. Heute ist es etwa FPÖ-Chef Herbert Kickl, der mit extremen Triathlons, Gelände- und Gebirgsläufen sein stählernes Auftreten untermauert.
Laufen ist ein Ausweis für Disziplin, paradigmatisch für das Erfolgsstreben und Einzelkämpfertum in einer hochindividualisierten Gesellschaft. Das war nicht immer so. In den 1970er Jahren wurden Läufer vor allem in ländlichen Regionen oft noch schief angesehen. Wer in der Freizeit durch die Gegend hechelte, geriet rasch in Verdacht, nicht ausgelastet zu sein. „‚Hast du zu wenig zu arbeiten?‘, rief man den Sportlern nach. Mein Vater wusste davon ein Lied zu singen. Er hängte sein Hobby daher nicht unbedingt an die große Glocke“, erzählt Ronald Eckert. Für den Sportarzt in Marchtrenk war das sportliche Verhalten seines Vaters jedenfalls eine Inspiration: Eckert entdeckte bereits mit zwölf Jahren die Lust am Laufen. Er ging ins Sportgymnasium, wurde zum Mittel- und Langstreckenläufer. Heute kommt der 48-jährige Allgemeinmediziner auf ein wöchentliches Pensum von 30 bis 40 Kilometer. Fünf- bis sechsmal pro Jahr läuft er einen Marathon, um sich – „jenseits des bloßen Lustfaktors“ – einer außergewöhnlichen Herausforderung zu stellen.
Auf den Körper hören
„Jeder Marathon ist anders, aber bei allen Hobbyathleten schaut irgendwann ein inneres Männchen mit einem Hammer vorbei“, sagt Ecker. „Wie man über diese schwierigen Phasen kommt, lernt man mit wachsender Erfahrung immer besser. Die körperlichen Belastungsgrenzen zu erweitern, ist vor allem eine Kopfsache.“ Aber auch eine Kunst: Denn der Arzt weiß, dass die persönliche Ambition mit der aktuellen Belastbarkeit ausbalanciert werden muss. „Beim Laufen glaube ich meinem Körper zu hundert Prozent. Wenn er mit Schmerzsignalen zu mir spricht, dann nehme ich das auch entsprechend ernst“, so der Mediziner.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!