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„Es ist Friede? Wer hat denn gewonnen?"

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Ähnlich wie dem braven Soldaten Schwejk, der die titelgebenden Worte sprach, als ihm vor seiner Hinrichtung die Augenbinde abgenommen wurde, ergeht es jetzt den osteuropäischen Schriftstellern. „Wie erleben die Schriftsteller die gegenwärtige politischgesellschaftliche Umwandlung in Mitteleuropa", war denn auch das Thema der Veranstaltung.

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Ähnlich wie dem braven Soldaten Schwejk, der die titelgebenden Worte sprach, als ihm vor seiner Hinrichtung die Augenbinde abgenommen wurde, ergeht es jetzt den osteuropäischen Schriftstellern. „Wie erleben die Schriftsteller die gegenwärtige politischgesellschaftliche Umwandlung in Mitteleuropa", war denn auch das Thema der Veranstaltung.

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Ausgangspunkt dieses Treffens von Schriftstellern aus Ungarn, Polen, der Tschecho-Slowakei und Österreichs war die Frage, was eigentlich geschehen ist. Waren die Ereignisse von 1989 wirklich eine Revolution oder aber eine Restauration? Oder sind sie nur eine Rückkehr zur Normalität? Eine fieberhafte Suche nach Anknüpfungspunkten in der Geschichte hat eingesetzt, wobei die über 40jährige kommunistische Ära ausgespart bleibt. Ist der Staat Marschall Jözef Pilsud-skis oder jener Tomas G. Masaryks ein brauchbares Vorbild? Kann man sich allen Ernstes auf die unabhängige Slowakei unter Josef Tiso berufen oder sollte man (insbesondere als Ungar) nicht gleich auf die Habsburger-Monarchie zurückgreifen?

Es herrscht große Ratlosigkeit darüber, was die Wende nun tatsächlich gebracht hat. Vielleicht, so wird man vertröstet, weiß man am Ende dieses Jahrhunderts mehr. Die Franzosen wußten ja zu Beginn der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts auch noch nicht, welche politische Entwicklung sie mit dem Sturm auf die Bastille für sich selbst und ganz Europa ausgelöst haben, wird argumentiert. Gemeinsam beklagten die Autoren auch die nahezu babylonische Sprachverwirrung, die im ehemaligen Ostblock nun vorherrscht. Denn die alten Begriffe sind nicht mehr verwendbar, den neuen Begriffen wie etwa Demokratie oder Marktwirtschaft entspricht aber noch keine Wirklichkeit.

Das meistbeachtete Referat hielt Andrzej Szczypiorski. Er war vor dem Umbruch als seit 20 Jahren oppositioneller Schriftsteller davon überzeugt, daß er denselben Traum von der Freiheit träumte wie alle Polen. Heute fragt er, ob es diese abstrakte Freiheit gibt und was sie bedeutet. Denn er mußte zur Kenntnis nehmen, daß seine Freiheit, nämlich jene des Gewissens, des Denkens, des Reisens nicht jene ist, die sich ein polnischer Arbeiter oder Bauer vorgestellt hat. Was bedeutete für diesen Zensur oder Reiseverbot? Er träumte von Speck, Brot und Konsumgütern. So ist die erste Lehre, die er aus den letzten drei Jahren gezogen hat die, daß es verschiedene Freiheiten gibt.

Selbstkritisch stellte Szczypiorski dann fest, daß in Osteuropa eine Lebenslüge umgeht: Die Lüge vom 40jährigen Martyrium, das mythologische Züge annimmt. Aber ist es möglich, so lange eine Diktatur auszuüben, ohne Unterstützung des Volkes? Haben alles die Kommunisten gemacht? An diesem Punkt stellt sich die Frage nach der individuellen Schuld, die jetzt in der „Stasi-Debatte" in der ehemaligen DDR besonders virulent ist. Doch ist die Bespitzelung ein Verbrechen im Bereich der Kultur, rätselte Szczypiorski. Er selbst war zehn Jahre Propagandist im Radio und ab 1974 Oppositioneller. Er meinte: „Ich habe nicht gesündigt, weil ich nicht verführt worden war".

Ihm erscheint es wichtiger über die Nachkriegsliteratur zu reden als über Stasi-Akten. Denn die Literatur hat in der kommunistischen Ära ihre Würde nicht verloren. Es war ein „shakespearehaftes Stück", das geboten wurde, eine große moralische Prüfung. Der Westen dagegen ist eher mit der Literatur Franz Kafkas oder Samuel Becketts zu vergleichen. Es wurde über die „Stunde der Schlaflosigkeit" geschrieben. Der Osten hatte andere Probleme. Heute nehmen die Osteuropäer an einer Farce teil. So ist die zweite Lehre Szczy-piorskis, daß die Literatur seit der historischen Wende ärmer geworden ist.

Das hat mit dem neuen Klima der Konsumzivilisation zu tun, die den Tod nicht kennt. Der Westen exportiert nun seine „unglaubliche Dummheit", nämlich „die Überzeugung, daß der Mensch das Recht auf Glück hat". Für den polnischen Autor ist das eine unmenschliche Illusion.

Derosteuropäische Schriftsteller hat deshalb nun neue Schuldigkeiten, andere Pflichten als den Kampf gegen die Diktatur. Nun gilt es den Kampf gegen den ehemaligen Verbündeten, gegen den Leser aufzunehmen, der ist „dumm, faul, feig und hat einen schlechten Geschmack". Es ist ein Kampf um geistige Kultur, der mit aller Barmherzigkeit geführt werden muß.

Der serbische Autor Miodrag Perisic bemerkt mit souveräner Ironie: „Die Biologie macht nirgends halt, und selbst ein so utopisch irreales Tier wie der kommunistische Staat stirbt schließlich eines ganz natürlichen und biologischen Todes." Daß und wie im Osten eine riesige Despotie von innen her, nicht gewaltsam, sondern durch einen organischen Auflösungsprozeß beseitigt wurde (Hanus Karlach aus Prag nannte es eine innere Verwesung des Systems), ist ein Ereignis, das in der Geschichte der Menschheit ohne Vergleich ist. Freilich wird man in Anbetracht der derzeitigen blutigen Konflikte und unserer Hilflosigkeit leicht zum Zynismus verführt und beginnt den Mythos der Hydra ökonomisch zu taxieren. War es denn nicht rentabler, von einem einzigen Wahn, einer zentralistischen Ideologie in Schach gehalten zu werden, anstatt nach dem Tod des einköpfigen Ungeheuers einem Dutzend rasch nachwachsender Epigonenschädeln ausgesetzt zu sein?

Und doch wird dieser Untergang Utopias nicht nur eine wirtschaftliche und politische, sondern eine noch unabsehbare geistige Nachbereitung und Aufarbeitung zur Folge haben müssen. Abermals werden wir an einer unbewältigten Vergangenheit lange zu knabbern haben. Denn der andere Teil Europas, von uns bisher durch die Mauern abgeschirmt, auch er gehört zur supranationalen Leistung, welche Europa heißt...

Nun sind wir konfuser denn je, denn die wahrscheinlich unauflösbaren Pa-radoxien der Geschichte werden uns bewußt (Peter Zajac aus Bratislava). Osteuropa, das andere, vielleicht bessere Europa, wie noch unlängst Erwin Riess bei einer Veranstaltung „Die Aktualität Lenins" fühlbar zu machen versuchte, ist nicht nur „Freiwild und Opfer des westeuropäischen nach Kolonien lüsternen Kapitalismus", sondern zeigt schwer integrierbaren Eigenwillen und pathologische Reaktionen...

Nun läßt das Europa der Regionen, das wir in Entstehung glaubten, grüßen, und zwar aus den Bordkanonen und Tanks, die es vom Europa der Zentralstaaten geerbt, gekauft oder geraubt hat. Alle fürchten wir uns jetzt vor dem Dialekt der Regionen, nachdem wir aufgehört haben, vor dem Esperanto der Supermächte, ihrem Atompotential zu zittern. Sind das die Geburtswehen des neuen Europa? Oder die blutigen Zuckungen der Eurosklerose, einer modischen Variante zum Untergang des Abendlands... Ist die Eurosklerose eine Bedrohung, die weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus unsere geistige Substanz betrifft? Drogensucht, Sektenwesen sind Anzeichen dafür, daß sich just im Wohlstand ein Notstand an Sinn-Erlebnis, an Sinn-Erfüllung immer mehr ausbreitet und zu einem universalen Vemichtungsherd der westlichen Welt auswächst. Alexander Giese hat in seinem Eröffnungsreferat eindringlich dargelegt, welche Gefahren drohen, wenn die Vernunft verdammt wird, konkrete und positive Utopien verloren gehen oder verkrusten.

Nun gehört der Sinn, der Logos, vielleicht zu den frühesten Artikeln, welche monopolistisch, planwirtschaftlich und staatskapitalistisch als unabänderliche Heilsbotschaft angeboten worden sind. Die Einheit von Thron und Kirche, Lebenssinn und Nationalstaat macht dies offensichtlich. Aber auch in den demokratischen Staaten Griechenlands, mit ihren geistigen Zentren in Delphi und Olympia, ist diese zentralistische Orientierung unverkennbar, also das was Hanus Karlach als den totalitären Kulturpatemalismus analysiert.

Der Zusammenbruch desOstblocks setzt seinem verstaatlichten Monopol von Sinngebung und dem kompro-mißbeladenen Hackenschlagen ein Ende. Daher besitzt die Geschichtsdeutung im dialektischen Materialismus keine oder eine nur sehr geschwächte Autorität. Unsere Nachbarstaaten treten somit in die freie Marktwirtschaft der Sinnstiftung und der Sinnangebote ein...

Pavel Kohout sagte einmal: „Hier im Westen muß ich um meine Freiheit kämpfen, weil sie der äußeren Freiheit, die mir im reichlichsten Ausmaß gewährt wird, zum Verwechseln ähnlich sieht, aber nicht dasselbe ist." Zufolge solcher Verwechslung, welcher die Werbung Vorschub leistet, betrachtet man Sinn und Sinnhaftig-keit als etwas Käufliches und Konsumierbares, als ein Objekt des Marktes... Es kann daher sein, daß Epochen der Not, der menschlichen Grenzsituation und der Ausgesetztheit für Sinnleistung viel mehr disponieren als das Leben des umworbenen Hätschelhans der Demokratie...

In einer solchen freien Marktwirtschaft der Kunst ist die Freiheit wohl gesetzlich verankert, aber de facto nicht existent, was ja auch der Staat einsieht. So kommt es zum Protektionismus der Kunst. In einer staatlich gemilderten Marktwirtschaft werden Bücher mit Druckkostenzuschuß produziert, erhalten Autoren beträchtliche Stipendien, werden Aufführungen von Großbetrieben gesponsert...

Wir aber stehen an der Bahre einer geschichtlichen Epoche, an der es, wie Friedrich Hegel meinte, immer einen lachenden Erben gibt. Wir Schriftsteller gehören bestimmt nicht dazu. Denn es war ein faustisches, und daher wohl auch schuldhaftes Unternehmen, das hier zu Ende zu gehen scheint. Jedenfalls war mit ihm verflochten die Idee der europäischen Aufklärung ebenso wie die jüdischchristliche Soterologie.

Wenn wir also wieder bei einem Jahre Null angelangt sind, so sind es doch diese Werte, die wir nicht fallenlassen können, ohne unsere Identität aufzugeben und unseren freien Fall in den Abgrund zu beschleunigen. Auszug aus dem Referat des Autors.

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