"Ein X für ein Y vormachen" als politische Strategie?

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Die Welt wie auch menschliche Existenz sind von Ambiguitäten geprägt. Vermeintliche Eindeutigkeit erweist sich meist als Täuschung – vom „Volkskanzler“ bis zur „Leitkultur“. Ein Gastkommentar.

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Die Welt wie auch menschliche Existenz sind von Ambiguitäten geprägt. Vermeintliche Eindeutigkeit erweist sich meist als Täuschung – vom „Volkskanzler“ bis zur „Leitkultur“. Ein Gastkommentar.

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Einer meiner Landsleute hat einst ob seiner Bemerkung, dass die Dinge „sehr kompliziert“ seien, viel Spott und Häme einstecken müssen. Heute wäre das anders. Denn heute gibt es auf alle komplexen Fragen offenbar eindeutige Antworten: schwarz/weiß, richtig/falsch. Fertig ist die „Brave New World“ 2024. Wer nicht antwortet, bevor die Frage fertig gestellt wurde, ist ein Zauderer. Wie aus der Halbautomatischen knallen die Worthülsen dem p. t. Publikum um die Ohren.

Es ist bemerkenswert, innert welch kurzer Zeit die allgemein üblichen Regeln eines zivilisierten öffentlichen Diskurses beschädigt und demontiert wurden. Musste einst jemand über seinen Sager von der „ideologischen Missgeburt“ noch den Landeshauptmannposten zurücklegen, kann heute ein Geistesbruder unverhohlen von einem „Volkskanzler“ schwadronieren und von den Identitären als „NGO von rechts“ reden. Wie viel „X für ein U“ geht eigentlich? Ich habe das Bild eines Pferdes vor mir, neben dem steht: This is a pigeon! With the head of a horse and the body of a horse. Man fühlt sich an den nackten Kaiser erinnert und hofft auf jenes Kind, das das Offenkundige ausspricht. Doch nichts passiert. Wie Ertrinkende schlagen jetzt jene, die in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten wider besseres Wissen an der Diskurszerstörung mitgewirkt haben, um sich und klammern sich an „Leitkultur“-Strohhalme oder ideologische Spurensuche.

Geordneter Dissens statt vagen Konsenses

Es ist für ein gedeihliches Miteinander verheerend, wenn einzelne Menschengruppen und Institutionen systematisch und beständig durch den Kakao und in den Dreck gezogen werden. Sachlich begründete Kritik und Interessenvertretung sind das eine, pauschale Verunglimpfungen ein anderes – und Lügen und Hetze ein Drittes. Um hier durchzu­navigieren, braucht es ein tragfähiges Koordinatensystem, das jedoch in der bisher bekannten Form derzeit sturmreif geschossen wird.

Ein solches Koordinatensystem bedeutet gerade nicht, die Deutungshoheit einer einzigen Perspektive (zuletzt etwa „Leitkultur“) zu beanspruchen, sondern es markiert den Rahmen, innerhalb dessen vielfältige Meinungen (die manchmal geteilt werden können und manchmal auch nur zu auszuhalten sind) ausgetauscht werden und ein Ausgleich der Interessen ermöglicht wird. Nicht vager Konsens, sondern wohlgeordneter Dissens wäre das Programm. Dieser Dissens muss freilich in einer verfassungsrechtlichen Rahmenordnung ausgetragen werden, deren Verbindlichkeit im Kern nicht infrage gestellt werden darf, wie dies der Rechtsphilosoph Horst Dreier skizziert.

Genau darum ist es notwendig, diejenigen zu benennen, die diese Rahmenordnung zu ersetzen und die Deutungshoheit einer einzigen Perspektive zu etablieren versuchen. Derlei hat in einem liberalen, demokratischen Rechtsstaat keinen Platz. Darum ist auch die Kritik an „X für U“-Täuschungen keine pauschale, sondern stets eine konkrete an klar zu benennenden demokratiegefährdenden Irreführungen.

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