Geschichte ist nicht Schicksal

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Für ihren Roman "Die Habenichtse" erhielt Katharina Hacker den diesjährigen Deutschen Buchpreis.

Letzte Woche erhielt Katharina Hacker in Frankfurt den zum zweiten Mal verliehenen Deutschen Buchpreis. Die Jury begründete ihre Entscheidung vor allem inhaltlich: "Katharina Hackers Roman Die Habenichtse erzählt die Geschichte von Haben und Sein neu. Ihre Protagonisten sind in den Dreißigern, wissen alles und kennen doch eines nicht: sich selbst. Sie lassen sich treiben und sind gleichermaßen Getriebene. In einer flirrenden, atmosphärisch dichten Sprache führt Katharina Hacker ihre Helden durch Geschichtsräume und in Problemfelder der unmittelbarsten Gegenwart, ihre Fragen sind unsere Fragen: Wie willst du leben? Was sind deine Werte? Wie sollst und wie kannst du handeln? Die Qualität des Romans besteht darin, diese Fragen in Geschichten aufzulösen, die sich mit den plakativen Antworten von Politik und Medien nicht zufriedengeben." Man fühlt sich an die Juryentscheidung im Vorjahr erinnert - auch da ging es um orientierungslose Mittdreißiger.

Schauplatz London

Mit Katharina Hackers "Die Habenichtse" hat die Jury allerdings sicher nicht die schlechteste Wahl getroffen. Der Roman hat neben diesen inhaltlichen auch seine literarischen Qualitäten, und er kommt ohne Sentimentalität und ohne Besserwisserei aus, obwohl er durchaus und unüberlesbar eine Moral von der Geschicht' vermittelt.

Schauplatz ist zunächst Berlin, bald schon London. Schon vor Jahrhunderten haben sich im Gewirr der Gassen, des Nebels und der Nacht hier die Menschen verlaufen, bot die Topografie im Großstadtroman die perfekte Möglichkeit der Darstellung von Desorientierung. Nachts geschahen die Verbrechen und die Verlorenheit des Einzelnen war auch tagsüber angesichts der anonymen Masse eindrücklich darstellbar. Auch die Protagonisten des 21. Jahrhunderts irren wieder zu Fuß und per U-Bahn durch die Stadt, auf der Suche nach oder auf der Flucht vor etwas. Zu Fuß und ziemlich langsam unterwegs ist auch Selma, die Protagonistin in "Entfernung.", dem neuen Roman von Marlene Streeruwitz. Auch er spielt in London, kurz vor dem Terroranschlag am 7. Juli 2005 (siehe Furche Nr 33).

Hackers Protagonistin Isabelle geht es vergleichsweise gut: weder hat sie ihren Job verloren, noch ihren Mann. Im Gegenteil: sie hat beides und ein Haus noch dazu. Dennoch könnte man nicht sagen, es ginge ihr gut.

Seltsame Leerstelle

Im Mittelpunkt des Romans und dennoch eine seltsame Leerstelle bildend, die für den Leser kaum erklärbar ist, stehen bzw. leben Jakob und Isabelle, die einander - am 11. September 2001! - nach zehn Jahren wieder sehen, aus nicht ganz ersichtlichen Gründen heiraten, nach London ziehen, aber einander sehr fremd sind und bleiben. Weder sie noch die Leser wissen, was sie eigentlich zusammenhält. So erfolgreich Isabelle und Jakob auch sein mögen in ihren Jobs und mit ihrem Haus, so leer ist es in ihnen selbst. Sie sind daher nicht reicher als andere, auch nicht an Erkenntnis oder Wahrnehmungsvermögen. Dann ist da noch Jim, der Dealer, der seine verschwundene Freundin Mae sucht, Sara, das im Haus eingesperrte Kind, und sein Bruder Dave, der für es sorgen möchte, aber nicht kann, und viele andere Figuren, die unter anderem auch die Diskussionen um (un)mögliche Wiedergutmachung in den Roman einbringen ...

Die Autorin kommentiert nicht, das überlässt sie ihren Figuren, vor allem in Dialogen. Zunächst verwirrend nebeneinander, verzahnen sich nach und nach die Lebensläufe, greifen ineinander ein oder auch nicht. Die zwar nicht direkt ausgesprochene aber nicht zu überlesende Botschaft dieses Romanaufbaus: Jedes Leben hat mit dem Leben des anderen zu tun, auch wenn man es nicht weiß, auch wenn man den anderen nicht kennt.

Gewalt und Schuld

Gewalt und mit ihr die Schuld schleichen sich ein, nicht immer von Anfang an so deutlich wahrzunehmen (aber von den Nachbarn dennoch nicht wahrgenommen) wie im Haus der kleinen Sara in Form des Gürtels des Vaters, der auf das Kind herunterknallt, oder noch deutlicher in Form des Irakkrieges. Es beginnt viel unscheinbarer: mit dem Unrecht an einer Katze, sexuellen Übergriffen unter Freunden, mit dem Wegschauen und gar nicht erst Wahrnehmen. Geschichte ist nicht Schicksal, so die dann doch deutlich formulierte Überzeugung, zu der Jakob schließlich kommt, die er aber für sein eigenes Leben noch nicht so recht zu begreifen scheint, sondern "Politik, Handlung, Willen". Und irgendwie geht es auch um Erbarmen - aber Jakob versucht am Ende vergeblich sich zu erinnern, in welchem Zusammenhang davon gesprochen wurde.

Die Habenichtse

Roman von Katharina Hacker

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006

308 Seiten, geb., e 18,30

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