Milo Rau: Der kollektive Jesus
Regisseur Milo Rau und Aktivist Yvan Sagnet zeigen im Film „Das neue Evangelium“, was passierte, wenn die fundamentalsten Glaubenssätze weniger geglaubt, sondern umgesetzt würden.
Regisseur Milo Rau und Aktivist Yvan Sagnet zeigen im Film „Das neue Evangelium“, was passierte, wenn die fundamentalsten Glaubenssätze weniger geglaubt, sondern umgesetzt würden.
Der Regisseur und künstlerische Aktivist Milo Rau hat als Intendant des Stadttheaters im belgischen Gent gemeinsam mit seinem Team ein Zehn-Punkte-Dogma, das „Stadttheater der Zukunft“, verfasst. Es geht darum, Theater radikal anders zu gestalten. Die zehn Vorgaben scheinen, vordergründig und nummerisch, an die Zehn Gebote anzuknüpfen.
Doch bereits Regel Nummer eins setzt eher bei Karl Marx an: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.“ Was aber ist eine Darstellung, die real wird? Dies zeigt der neue Film des Schweizers, „Das neue Evangelium“, explizit. Der 44-Jährige und das Ensemble aus Laien und Profis paraphrasieren in der Doku-Fiktion die Frage: Was würde Jesus tun, heute und hier, angesichts tausender Flüchtlinge und Migrant(inn)en, die auf süditalienischen Plantagen unter menschenunwürdigen, sklavereiähnlichen Bedingungen leben und schuften?
Der Streifen fokussiert die reale Situation in der Region rund um die italienische Kleinstadt Matera, berühmt als Drehort für die Jesus-Filme von Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson. Die Rolle des Jesus spielt der gebürtige Kameruner Yvan Sagnet. Der streitbare Gewerkschafter und politische Aktivist, 2005 als Student nach Italien gekommen, hatte die ersten Migrant(inn)enproteste gegen Arbeitsbedingungen auf den Plantagen Süditaliens organisiert. Regisseur Rau stieß 2019 bei seinen Vorrecherchen in Matera auf den heute 36-Jährigen. „Ich habe ihn gefragt: Wie hast du es geschafft, diese Leute aus so vielen Nationen hinter dich zu bringen? Da hat er gesagt: ‚Ich habe zwölf Unterführer.‘ ‚Zwölf?‘, habe ich gefragt? So hat sich die Idee langsam entwickelt.“
Wo Pasolini und Mel Gibson drehten
Im Film nun versammelt der schwarze Jesus die Jünger um sich, wie es das biblische Vorbild einst tat. Und so echt, wie es vor 2000 Jahren gewesen sein mag, so echt geschieht dies in Raus Streifen: Sagnet sucht sich seine Apostel auf den Plantagen und in Elendsquartieren rund um Matera. „Habt keine Angst, herzukommen und zuzuhören, denn so könnt ihr nicht mehr weiterleben, unter diesen Bedingungen“, ruft er in einer schäbigen Halle, die als Schlafstätte dient.
Wie Jesus, der in Jerusalem einzog, so ziehen Sagnet und seine „Jünger“ später ins filmische Jerusalem ein. In apostolisches Gewand gehüllt, gefolgt von echten Touristen und Einwohnern, protestieren sie für Würde und Rechte. „Wir sind alle frei. Nicht der Verzweifelte ist der Feind, sondern der, der Verzweiflung sät“, ruft Jesus alias Ivan.
Eindrückliche Szenen sind dies, in denen die biblische Historie mit der Realität der heute Marginalisierten verschmilzt. Dann stürmen Sagnet und die Seinen einen Supermarkt, kippen die billige Passata und Tomaten aus den Regalen. „Jesus ist definitiv ein Vorbild für mich“, sagte Sagnet im echten Leben.
Die Gesamtkomposition des Films wirkt, wie schon frühere Werke Raus, etwa „Das Kongo Tribunal“ (2015), wie eine Reality-Performance. „Rivolta della dignità“, eine „Revolte der Würde“ – dies das wütende Leitmotiv, die schwarzen Tomatenpflücker rufen dieses immer wieder aus, wenn sie vor der Kamera sprechen oder protestierend durch die Straßen ziehen. Denn das Echte, die katastrophale Lebenssituation und Aus- beutung, die mafiösen Arbeitsvermittler, die politische Marginalisierung der Schwarzen und Flüchtlinge – dies ist eigentlicher Kern des Films.
Auch wenn der Streifen in der Kreuzigungsszene kulminiert, spielt die Passionsgeschichte eher im Hintergrund. Eine Botschaft davon scheint zu sein: Es ist das Jetzt, in dem Jesus, wenn er denn ist, sein kann, in denjenigen, deren Durst und Hunger er stillen wollte.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!